Das Projekt
"Formulae - Litterae - Chartae" Langzeitvorhaben der Akademie der Wissenschaften in Hamburg in Kooperation mit der Universität Hamburg
Das Forschungsvorhaben "Formulae-Litterae-Chartae" ist ein Projekt der Akademie der Wissenschaften in Hamburg im Rahmen des Akademienprogramms, das in Kooperation mit der Universität unter Leitung von Prof. Dr. Philippe Depreux geführt wird (Beginn 2017). Die Ziele des auf 15 Jahre angelegten Projektes sind die Erforschung und kritische Edition der frühmittelalterlichen Formulae sowie ihre Bereitstellung über eine digitale Forschungsinfrastruktur, die anhand von Briefen und Urkunden die Erforschung des formelhaften Schreibens im frühmittelalterlichen Europa ermöglicht. Die Buchedition ist als Editionsvorhaben der Monumenta Germaniae Historica (MGH) angenommen worden.
Ziele
Das Projekt widmet sich der Erforschung und der kritischen Edition der frühmittelalterlichen Formulae, aus anonymisierten Urkunden oder Schreibübungen angefertigte Muster, die hauptsächlich innerhalb von Sammlungen überliefert sind und oftmals einzigartigen Einblick in die frühmittelalterliche Welt erlauben. Es ist daher notwendig, diese Sammlungen nicht nur als Textträger, sondern auch als Geschichtsquellen an sich zu betrachten. Die Edition, die in die Reihe der Monumenta Germaniae Historica (MGH) aufgenommen wurde, setzt sich das Ziel, der besonderen Überlieferungssituation dieser Quellengattung gerecht zu werden: Zum einen werden die Formulae als Einzelstücke kritisch ediert, kommentiert und mit Übersetzung publiziert; zum anderen werden die für ihre Wirkungsgeschichte wichtigen Sammlungen erschlossen und in einer digitalen Edition der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Für die Erforschung des formelhaften Schreibens im lateinischen Früh- und Hochmittelalter ist darüber hinaus ein Vergleich mit den zeitgenössischen Briefen und Urkunden erforderlich.
Daraus ergibt sich, welche Impulse eine Neuedition der Formulae der weiteren Forschung zur Kultur-, Sozial- und Rechtsgeschichte des Frühmittelalters zu geben vermag: Die neue Edition wird gegenüber der alten MGH-Ausgabe etliche neue Texte (ca. 150 neue Formulae) beinhalten und damit ein vollständiges Bild der Überlieferung geben. Sie wird ferner erstmals verlässliches Vergleichsmaterial zur Verfügung stellen, das auf der Basis der mittlerweile zum größten Teil edierten Briefe und Urkunden beruht. Schließlich wird in Form einer Datenbank mit angegliedertem e-Lexikon zum ersten Mal eine eingehende Analyse der frühmittelalterlichen Formulae vorliegen, den Vergleich mit anderen Quellen ermöglichen und dadurch einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der frühmittelalterlichen Gesellschaft und zugleich ein unabdingbares Arbeitsmittel für weitere Forschungen liefern.
Forschungsstand
Formulae sind wichtige Quellen für die Erforschung der quellenarmen Zeit des Frühmittelalters, da sie zum Teil Texte enthalten, die sonst archivalisch nicht überliefert wurden. Dies gilt besonders für Urkunden für weltliche Empfänger: Die Überlieferungschancen solcher Dokumente sind äußerst gering, da einerseits zumeist nur jene aus kirchlichen Archiven überdauerten, andererseits aber auch viele dieser Dokumente Alltagsangelegenheiten betrafen, die kaum langfristig archivierungswürdig waren. Je nach Inhalt wurden die Musterurkunden unterschiedlich gut erforscht – als Beispiel einer intensiv behandelten Gattung sei auf den Ersatz einer verlorenen Urkunde (apennis) hingewiesen.
Lange Zeit waren frühmittelalterliche Formulae für viele Historikerinnen und Historiker hauptsächlich als Urkundenmuster interessant, wie aus der klassischen Darstellung von Rudolf Buchner zu entnehmen ist, der jedoch zugleich den „literarische[n] Charakter der Formelsammlungen“ erkennt: „Den Formeln für Urkunden werden oft solche für Briefe beigegeben: die Grenzen zwischen beiden Gruppen sind fließend (…). Den Kern der Formelsammlungen bilden aber die Urkundentexte“. In der Tat belegen die Formulae eigentlich, wie unscharf die Trennung von Brief und Urkunde ist. Sie sollen als gemischtes, die kulturelle Praxis des Frühmittelalters widerspiegelndes Genre bewertet werden. Denn gerade wegen des fließenden Übergangs zwischen beiden Gattungen (Briefe und Urkunden) sind die frühmittelalterlichen Sammlungen von Formulae für unsere Kenntnis der Kultur in merowingischer Zeit sowie im Zeitalter der karolingischen Renaissance und in den folgenden Generationen besonders wichtig.
Die frühmittelalterlichen Formelsammlungen wurden bereits zweimal im 19. Jahrhundert von Eugène de Rozère und Karl Zeumer ediert. Zeumers Edition ist zwar bis zum heutigen Tag maßgeblich für die Forschung, jedoch hat die in den letzten Jahren gestiegene Aufmerksamkeit für die Formulae ihre Mängel verdeutlicht. So hat insbesondere Alice Rio in ihrer Dissertation dargelegt, wie sehr die Gestaltung der Zeumerschen Edition von den Vorstellungen und vorgefassten Meinungen ihres Herausgebers geprägt war, was eine Formula bzw. eine Sammlung von Formulae sein sollte. In Einklang mit den Editionsmaßstäben des 19. Jahrhunderts verfolgte Zeumer das Ziel, aus unterschiedlichen Sammlungen von Formulae „Urtexte“ zu rekonstruieren. Dies führte jedoch unter anderem dazu, dass Zeumer diesen Sammlungen immer wieder willkürlich literarische Texte (Musterbriefe, Dichtung) entnahm und sie separat im Anhang oder der Einleitung anstatt im Haupttext edierte. Entstanden ist mithin ein künstliches Gebilde, das der handschriftlichen Überlieferung nicht gerecht wird und jüngst von Warren Brown sogar als „editorial fiction“ bezeichnet wurde. Zeumers Edition verfehlt damit den eigentlichen Charakter der Formulae, die sich in ständigem Wandel befindliche Texte/Textsammlungen darstellen, welche im Rahmen des Gebrauchs immer wieder den jeweiligen Bedürfnissen der Schreiber angepasst wurden.
Projektumfeld und Kooperationen
Das Projekt ist im Rahmen des von Bund und Ländern finanzierten Akademienprogramms bewilligt worden. Dieses Programm dient der Erschließung, Sicherung und Vergegenwärtigung des kulturellen Erbes. Es ist eines der größten geisteswissenschaftlichen Forschungsprogramme der Bundesbundesrepublik Deutschland und wird von der Union der deutschen Akademien koordiniert.
Die Druckfassung der Edition wird bei den Monumenta Germaniae Historica (MGH) erscheinen. Die auf das 1819 von Freiherr Karl vom Stein gegründete „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde“ zurückgehenden MGH mit Sitz in München haben zum Ziel, alle mittelalterlichen Quellen durch kritische Editionen der Forschung zugänglich zu machen.
Das Langzeitvorhaben kooperiert mit dem an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (BAdW) verankerten Mittellateinischen Wörterbuch (MLW). Das Mittellateinische Wörterbuch ist das größte von 20 nationalen Wörterbüchern zur mittelalterlichen Latinität und betreibt seit 1939 Grundlagenforschung.
Regelmäßiger Gast im Projekt ist Prof. Dr. Alexandre Jeannin (Université de Bourgogne), ausgewiesener Experte für Frühmittelalterliches Recht und die frühmittelalterlichen Formelsammlungen.
Studierenden ermöglicht das Langzeitvorhaben mittels Bereitstellung von Stipendien mehrmonatige Aufenthalte in Hamburg und Mitarbeit im Projekt im Rahmen Rahmen eines Praktikums. Dieses Angebot wurde inzwischen mehrfach von Studierenden der französischen École nationale des chartes, einer der ältesten und prestigeträchtigsten grandes écoles und die führende französische Lehr- und Forschungsstätte für historische Grund- und Hilfswissenschaften, wahrgenommen.
Das Projekt in Film und Ton
Version mit Übersetzung in Gebärdensprache
DGS-Dolmetscherin: Christine Weinmeister / SIGNissimo
AdWHH-Podcast "Wissenschaft als Kompass" vom 18.3.2024 zum Langzeitvorhaben
Zum Formulae-Logo
Unser Logo zeigt einen Ausschnitt aus dem Stuttgarter Bilderpsalter (Stuttgart WLB Cod. bibl. fol. 23, fol. 140r). Zu sehen sind zwei Männer, die zum Abschluss eines Geschäftes die darüber ausgestellte Urkunde zerschneiden. Die Herstellung eines sogenannten Chirographen diente als Beglaubigungsmittel. Im Streitfall konnte durch das Wiederzusammenfügen der Urkundenstücke deren Echtheit nachgewiesen werden.
Zum Chirographen vgl. Bernhard Bischoff, Zur Frühgeschichte des mittelalterlichen Chirographum, in: Archivalische Zeitschrift 50/51 (1955) S. 297-300; Winfried Trusen, Chirographum und Teilurkunde im Mittelalter, in: Archivalische Zeitschrift 75 (1979) S. 233-249; Katharina Anna Gross, La representation des chirographes dans les cartulaires lotharingiens, in: Jean-Baptiste Renault, Originaux et cartulaires dans la Lorraine médiévale: XIIe-XVIe siècles (2017) S. 163-174.