Formulae

Der Begriff „Formel“ bezeichnet eine bestimmte, feststehende Abfolge von Wörtern, wie sie etwa im religiös-kultischen Bereich oder auch im Recht Verwendung finden, gleichermaßen im Mündlichen wie auch im Schriftlichen. Gerade in letzterem Bereich existierten im Frühmittelalter, wie auch heute, bestimmte Regeln, in welcher Struktur ein Schriftstück abgefasst zu sein und welche Wendungen in seiner Sprache Verwendung zu finden hatten. Als Beispiel für derartig formalisiertes Schreiben können etwa Briefe genannt werden, wobei das Spektrum in diesem Genre von persönlichen Schreiben, die weitgehend frei verfasst sind, bis hin zu Urkunden, gewissermaßen standardisierte Briefe mit Rechtsinhalt, reicht, bei welchen der hohe Grad an Wiedererkennbarkeit von Sprache und Struktur der Glaubwürdigkeit des Dokuments dient. Diese Standardisierung des Schreibens wurde auch durch das Verwenden von Vorlagen erreicht, das heißt von Texten, die bei der Ausfertigung von Urkunden oder dem Verfassen von Briefen als Orientierung dienten. Derartige Mustertexte werden als Formulae bezeichnet und finden sich vor allem im fränkisch-karolingischen Reich nördlich Alpen.

Merkmale von Formulae

Als Formulae dienten zumeist Abschriften von tatsächlich verwendeten Urkunden oder Briefen, wobei in diesen individuelle Merkmale wie Namen, Orte, Zahlen oder Daten durch anonyme Platzhalter ersetzt wurden. Die so entstandenen Texte sind jedoch nicht als Formulare im modernen Sinne zu verstehen, also als Textvorlagen, welche Wort für Wort unter Inserierung der entsprechenden Daten kopiert werden. Vielmehr dienten die Formulae als Beispiele für Textstrukturen und Wendungen, die bei bestimmten Aufgaben verwendet, angepasst, umformuliert oder auch mit anderen kombiniert werden konnten.

Sammlung vs. Einzelstück

Wenn auch eine Reihe einzeln überlieferter Formeln bekannt ist, sind diese Mustertexte doch zumeist in größeren (Formel-)Sammlungen (auch als Formelbücher oder Formularsammlungen bezeichnet) gebündelt. Entgegen der Einheitlichkeit suggerierenden Bezeichnung bieten diese Sammlungen jedoch ein außerordentlich heterogenes Bild. So finden sich in ihnen unveränderte Originalstücke ebenso wie erdachte Vorlagen; neben reinen Sammlungen für Briefe oder Urkunden existieren auch solche, in welchen Formeln für beide enthalten sind; sie können gleichermaßen bestens geordnet und übersichtlich gegliedert sein wie auch vollkommen unstrukturiert.

Frage des Gebrauchs

Im Spätmittelalter wie auch in der Frühen Neuzeit dienten ausgefeilte und bestens organisierte Formelsammlungen ohne Zweifel als Arbeitsinstrumente professionellen Schreibens. Für das Frühe Mittelalter stellt sich demgegenüber jedoch, angesichts der desorganisiert wirkenden Sammlungen dieser Zeit, die Frage nach ihrem Verwendungszweck. So ist es durchaus möglich, dass es sich bei den frühmittelalterlichen Formelsammlungen nicht um fest umrissene Sammlungen für einen bestimmten Rezipientenkreis handelte, sondern um private Notizen einzelner Schreiber, die sich bei ihrer Komposition, zugeschnitten ganz auf ihre eigenen Bedürfnisse, verschiedenster Quellen bedienten. Es ist fraglich, ob die für die Forschung bislang nicht durchschaubare Gliederung vieler dieser Sammlungen nicht vielleicht ein Zeichen mangelnder Vertrautheit dieser Schreiber mit den von ihnen zu verfassenden Texten sein könnte: gerade weil sie mit der Aufgabe, solche Urkunden oder Briefe abzufassen, eher selten konfrontiert waren, legten sie Sammlungen an, um im Zweifelsfall auf Muster zurückgreifen zu können. Frühmittelalterliche Formelsammlungen wären damit Zeugen gelehrten, jedoch noch nicht professionellen Schreibens. Dieser Lesart entgegen steht jedoch, dass die in den Formelsammlungen zusammengestellten Muster durchaus den alltäglichen Bedürfnissen und Gepflogenheiten der Schreiber Rechnung trugen und damit Einblick in die gängige Rechtspraxis geben.

Bedeutung der Formulae für die Forschung

Die Überlieferung von zwei für die Forschung zentralen frühmittelalterlichen Quellentypen, Urkunden und Briefe, ist in doppelter Hinsicht sehr einseitig. Zum einen sind in der Regel nur solche Dokumente erhalten, die Besitz- oder Nutzungsrechte verbriefen. Zum anderen wuchs die Wahrscheinlichkeit, dass diese Dokumente die Zeiten überdauerten, mit der Möglichkeit ihrer langfristigen Archivierung. Die besten Bedingungen dafür existierten in dauerhaft bestehenden Institutionen mit entsprechend geschultem Personal, also in Kirchen und Klöstern. Damit sind fast ausschließlich jene Rechtsdokumente erhalten, die kirchliche Institutionen betreffen und in welchen Rechte und Güter übertragen oder bestätigt werden.

In den Formelsammlungen hingegen machen derartige Rechtstitel nur einen geringen Teil der Vorlagen aus. Stattdessen finden sich dort in größerer Zahl Muster für an Laien gerichtete Dokumente. Diese enthalten wiederum zwar auch Übertragungen und Bestätigungen von Rechten und Gütern, der weitaus größte Teil der Formeln betrifft jedoch vollkommen andere Rechtsbereiche wie etwa Freilassungen und Schulddienste, Darlehensverträge und Verkäufe, Eidesleistungen und Vollmachten, Adoptionen, Ehen und Scheidungen. Formelsammlungen ermöglichen damit einen einzigartigen Einblick in Rechtspraxis und Alltag des Frühen Mittelalters und bieten zentrale Informationen für Sozial-, Wirtschafts-, Kultur-, Rechts- und Mentalitätsgeschichte sowie für (Mittel-)Lateinische Sprach- und Literaturwissenschaft.

Zeitliche Abgrenzung

Formelsammlungen sind bereits aus der römischen Antike bekannt. Zwar ist die Überlieferung hier nur äußerst bruchstückhaft, dennoch ist zu vermuten, dass es sich bei diesen um hochgradig organisierte Kompilationen handelte, die der römischen Verwaltungspraxis bis zu ihrem Auslaufen im Frühmittelalter als Vorlagen dienten. Lässt es die schlechte Quellenlage auch kaum zu, Verbindungen zwischen den spätantiken und frühmittelalterlichen Formelsammlungen nachzuweisen, so steht doch zu vermuten, dass sich die römische Tradition in diesen fortsetzte. Den römischen Formelsammlungen am nächsten stehen vermutlich die ostgotischen Mustertexte aus dem 6. und 7. Jahrhundert, erstellt aus den Regesten des Hofes in Ravenna und überliefert in den Variae Cassiodors († um 580). Auch einige frühmittelalterliche Sammlungen, wie etwa die Formulae Andecavenses (Angers, vmtl. spätes 6./frühes 7. Jahrhundert), zeugen noch von der fortlebenden römischen Tradition. In ihnen ist jedoch bereits der fortschreitende Wandel sichtbar, hin zu einem immer mittelalterlicheren Gepräge.

Möglicherweise dem Verlust handschriftlicher Überlieferung geschuldet, scheinen die Formelsammlungen im Laufe des 10./11. Jahrhunderts schließlich nördlich der Alpen zu verschwinden. An die Stelle des formelhaften Schreibens tritt nun die individuelle Schreibkunst der Schreiber. In Italien, wo sich im Frühmittelalter mit Ausnahme des Liber Diurnus der päpstlichen Kanzlei keine Mustertexte erhalten haben, kommt Mitte des 11. Jahrhunderts mit der Entstehung der neuen Ars dictaminis ein grundlegend anderer Typ von Formelsammlungen auf