Wie entsteht eine Edition?
Mittelalterliche Bücher sind wertvolle Einzelstücke. Jeder Codex ist das Ergebnis eines aufwendigen Herstellungsprozesses, bei dem die Inhalte sorgfältig zusammengestellt und von Hand geschrieben wurden. Nur in den seltensten Fällen besitzen wir allerdings das Original des Autors (Autograph). Die erhaltenen Fassungen sind in der Regel Abschriften, entweder des Originals oder einer älteren Kopie. Texte sahen sich somit einer permanenten Redaktion ausgesetzt, beim Abschreiben geschahen einerseits neue Fehler, während der Schreiber andererseits Fehler aus seiner Vorlage korrigierte. Sätze wurden umgestellt und zusätzliche Erklärungen in den Text eingefügt. Zitate wurden hinzugefügt oder ausgelassen. Kürzere Texte oder Textteile wurden in längere Texte inkorporiert oder längere Texte nur auszugsweise abgeschrieben. Im Ergebnis sind keine zwei Fassungen eines Mittelalterlichen Textes absolut identisch. Mitunter weichen zwei Texte, die unter demselben Titel überliefert sind, sogar so weit voneinander ab, dass man fast von unterschiedlichen Texten sprechen kann. Die Überlieferung eines mittelalterlichen Textes stellt den modernen Historiker und Philologen also vor Problem, dass sich Fragen nicht anhand einer einzelnen Fassung beantworten lassen, sondern stets die gesamte Überlieferung in den Blick genommen werden muss. Ziel einer modernen kritischen Edition ist es daher entweder den ursprünglichen Text so weit wie möglich wieder herzustellen (Archetyp) oder die am weitesten verbreitete Fassung eines Textes zu rekonstruieren (textus receptus). Letzteres ist vor allem bei Rechts- und Wissenschaftstexten von Bedeutung, ersteres bei allen literarischen Texten.
Zunächst werden sämtliche überlieferten Fassungen eines Textes (Manuskripte und ggf. Drucke) gesichtet und transkribiert, um sie leichter vergleichen zu können. Vorhandene Kürzungen werden aufgelöst, fehlende Wortabstände, Rechtschreibfehler und falsche Wörter bleiben zunächst erhalten. Dann werden alle Transkripte miteinander verglichen. Abweichungen, Korrekturen und Änderungen in den Manuskripten werden sorgfältig notiert. Anhand von gemeinsamen Textvarianten und Fehlern ermittelt man die Abhängigkeit der Handschriften voneinander (Original und Abschrift), einzelne Handschriften lassen sich zu Gruppen zusammenfassen (Textkritik). Auch Alter und Entstehungszeit einer Handschrift spielen eine große Rolle. Beides lässt sich am Manuskript selbst ermitteln. Neben inneren Merkmalen wie Besitzeinträgen geht es hier vor allem um die verwendete Schrift und die Buchmalerei. Bestimmte Schriftformen, Schreibgewohnheiten und Bildtraditionen ermöglichen es, im Idealfall eine Handschrift einem bestimmten Schreibzentrum (Provenienz) und einer bestimmten Periode zuzuweisen. Anhand des nun entstandenen Stammbaums (Stemma) trifft der Editor seine Entscheidung welche Handschriften in welchem Umfang für die Edition ausgewertet werden.
Nun entsteht der eigentliche Text der Edition. Zumeist bildet der Text einer Handschrift die Grundlage dafür. Will man den Archetyp rekonstruieren legt man diejenige Handschrift zu Grunde, bei der man die größte Nähe zum Autor ermitteln konnte. Will man den textus receptus, wählt man die Handschrift von der die meisten Kopien abstammen. Für die Edition werden die Worte sauber getrennt und erste Korrekturen (offensichtliche Schreibfehler) vorgenommen. Bei einem erneuten Textvergleich trifft der Editor jetzt für jede Variante neu die Entscheidung ob er der ausgewählten Handschrift folgt oder eine der anderen bevorzugt. Die unterschiedlichen Lesarten und die Entscheidungen des Editors werden notiert.
Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Schritt, ist eine saubere Übersetzung, um Textprobleme zu finden. Dafür wird der Text so wörtlich wie möglich und so frei wie nötig ins Deutsche übertragen und eine Interpunktion festgelegt. Anhand der Übersetzung werden weitere Fehler im lateinischen Text korrigiert und falsche Lesarten identifiziert. Gerade bei kopial überlieferten Texten kann es sein, dass der Editor „Korrekturen“ gegen die Überlieferung vornehmen muss, um Lesbarkeit, Textverständnis oder den intendierten Sinn richtig darzustellen (Emendation). Emendationen werden schließlich genau wie die abweichenden Varianten der übrigen Überlieferung im „kritischen Apparat“ verzeichnet und zugeordnet. Dieser Apparat ist für Philologen wie Historiker unverzichtbar, denn er dokumentiert wie der moderne Text zustande kommt, welche Stellen bereits Zeitgenossen Mühe bereitet haben und bietet alternative Interpretationen einzelner Stellen. Eine besondere Rolle spielen hier die sogenannten „orthographischen Varianten“. Das Lateinische besaß keine über die Jahrhunderte hinweg verbindliche normierte Orthographie, sodass unterschiedliche Schreibvarianten des selben Wortes existieren. Solche Varianten finden häufig nur eingeschränkt Eingang in den kritischen Apparat, um den Apparat nicht über Gebühr aufzublähen. Eine Kommentar ergänzt den Text um relevante Sachinformationen wie Personen, Orte oder Geschehnisse. Auch Änderungen und Emendationen können im Kommentar erläutert werde. Wörtliche oder inhaltliche Zitate im Text der Edition werden markiert und in Form von Randglossen erläutert. Zusätzlich kann man der Edition eine stilistisch geglättet Übersetzung beigeben, um den Lesern den Zugang zum Text zu erleichtern.
Literatur:
W.Berschin, Lachmann († 1851) und der Archetyp, in: Ders., Mittellateinische Studien 1, Heidelberg 2005, S.389-394.
S.Timpanaro, La genesi del metodo del Lachmann, Padua 21981.