Die Redaktion einer Urkunde
Wie eine Urkunde ausgestellt wurde unterschied sich stark nach Aussteller, Ort und Zeit. Über alle Unterschiede hinweg lassen sich jedoch eine Reihe gemeinsamer Merkmale feststellen. So begann die Ausstellung einer Urkunde in jedem Fall bereits einige Zeit vor dem eigentlichen Redaktionsprozess mit der Bitte (Petition) des Empfängers an den Aussteller, eine Urkunde über einen bestimmten Rechtsinhalt auszufertigen. Gelegentlich finden sich in diesem Prozess auch mittelnde Personen (Intervenienten), die ihren Einfluss auf den Aussteller geltend machen um den Bittsteller zu unterstützen. Je nach Aussteller waren verschiedene Personen für die Ausfertigung einer Urkunde zuständig: öffentliche Notare oder Schreiber für Privatpersonen, dem Scriptorium eines Klosters zugehörige Mönche für dessen Angelegenheiten (oder auch für Privatpersonen) und schließlich herrscherliche, päpstliche oder bischöfliche Kanzleien. Diese letzteren konnten sich je nach Ort und Zeit stark unterscheiden. So sollte man sich selbst unter den herrscherlichen Kanzleien des frühen Mittelalters keine wohlstrukturierten Organisationen vorstellen, die sich ausschließlich mit der Ausfertigung von Dokumenten befassten, sondern eher relativ lose Gruppen unter der Leitung eines Kanzlers, deren Angehörige auch in der Lage waren, Urkunden auszufertigen.
An der eigentlichen Redaktion waren in der Regel beide Seiten beteiligt. So legte der Bittsteller zumeist ein Schreiben vor, in welchem er den Rechtsinhalt seiner Bitte umriss. Dazu kamen immer wieder weitere Dokumente, etwa ältere Urkunden, die als Beweismittel zur Untermauerung der eigenen Ansprüche dienten und deren Texte immer wieder in kleineren oder größeren Teilen in die neue Urkunde übernommen wurden. Die endgültige Ausformulierung war dabei auch das Ergebnis eines Austausches zwischen beiden Parteien, der die Anfertigung von Entwürfen, sogenannten Vorurkunden, miteinschloss. Anschließend folgten die Reinschrift der Urkunde, Kontrolle und Korrektur. Lag dabei die Verantwortung für den Redaktionsprozess in aller Regel beim Aussteller, so finden sich doch auch Urkunden, die vom Empfänger selbst angefertigt wurden und bereits in der Endfassung dem Aussteller vorgelegt wurden. In beiden Fällen erhielt die Urkunde ihre Rechtsgültigkeit jedoch erst durch das Anbringen der Beglaubigungsmittel (wie Unterschriften und Siegel) sowie durch die oftmals öffentliche und ritualisierte Überreichung der Urkunde durch den Aussteller an den Empfänger.
Literaturhinweise:
Olivier Guyotjeannin, Jacques Pycke et Benoît-Michel Tock, La diplomatique médiévale, Turnhout 32006.
Reinhard Härtel, Notarielle und kirchliche Urkunden im frühen und hohen Mittelalter, Wien und München 2011.
Mark Mersiowsky, Die Urkunde in der Karolingerzeit: Originale, Urkundenpraxis und politische Kommunikation (Schriften der MGH 60), Wiesbaden 2015.
Harry Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre, Leipzig 1889.
María Milagros Cárcel Ortí (Hg.), Vocabulaire international de la diplomatique, Valéncia 21997. Zur Online-Version des Vocabulaire