Zum 19. Mai: Alkuins Vermächtnis
19. Mai 2022
Die besondere Bedeutung des Angelsachsen Alkuin (* um 735, † 19. Mai 804) für die Kulturgeschichte der Karolingerzeit ist unstrittig: Der Gelehrte aus York, dem als engsten Berater Karls des Großen die Mitwirkung an entscheidenden Bestimmungen und am Verfassen wichtiger Rundschreiben des Frankenherrschers zugeschrieben wird, hat durch seine zahlreichen Schriften zu vielen Debatten seiner Zeit beigetragen. Der Diakon, der zum Abt von Saint-Martin in Tours wurde, hat während seines ganzen Lebens in England und auf dem Kontinent, zunächst am Königshof, dann in seiner Abtei an der Loire, viele Schüler ausgebildet, so dass gleich wenige Jahre nach seinem Tod sein Ruf als „in allen Fächern gelehrter“ und „durch seine Lehre berühmter“ Lehrer feststand. Angesichts seines Einsatzes für die gute Ausbildung der Geistlichen und Wissbegierigen seiner Zeit ist es nicht verwunderlich, dass sein Epitaph (ediert in: MGH, Poetae Latini aevi Carolini I, S. 350-351) auch für den Unterricht und/oder als Vorlage für das Verfassen weiterer Gedenkinschriften benutzt wurde. Genau dies ist der Fall in der aus dem 9. Jh. datierenden Pariser Handschrift BnF lat. 4629, die u.a. schulische Schriften und eine Musterurkunde aus Bourges enthält (siehe A. Rio, Legal Practice and the Written Word, S. 258). Dort wurde das Epitaph Alkuins kopiert und anonymisiert: Statt der namentlichen Erwähnung Alkuins im letzten Distichon und in der Angabe zur Identität des Verstorbenen und zu seinem Sterbedatum im Prosaabschluss steht das Pronomen ille als Platzhalter.
Hier, ich bitte Dich, verweile ein wenig, wenn Du vorbeikommst, Wanderer,
und erforsche in Deinem Herzen meine Worte,
damit auch Du Dein Schicksal anhand meiner Erscheinung erkennst:
Es wandelt sich, ach, die Gestalt, wie die meine so auch die Deine.
Was Du jetzt bist, berühmt auf Erden, das war ich einmal, Wanderer,
und was ich jetzt bin, das wirst Du einmal sein.
Ich jagte die Vergnügungen der Welt mit eitler Liebe,
jetzt bin ich Asche und Staub und Fraß für die Würmer.
Darum denke daran, Dich mehr um die Seele zu sorgen,
als um das Fleisch, denn diese bleibt, jenes vergeht.
Warum verschaffst Du Dir Ländereien? Du siehst doch in welch kleiner Höhle
mich die Grabesruhe hier hält: So klein soll auch die Deine sein.
Warum gierst Du danach, den Körper mit tyrischem Purpur zu kleiden,
den bald der hungrige Wurm im Staub frisst?
Wie Blüten verwehen, wenn der bedrohliche Wind kommt,
so vergehen nämlich Dein Leib und Dein ganzer Ruhm.
Gib Du mir, ich bitte Dich, Leser, etwas Gegenzug für dieses Gedicht
und sprich: „Gib, oh Christe, Vergebung Deinem Diener“.
Ich beschwöre Dich, lass keine Hand das fromme Recht dieser Grabstätte verletzen,
bis die Engelsposaune von der Höhe erschallt:
„Du, der Du im Grabe liegst, erhebe Dich aus dem Staub der Erde,
der mächtige Richter erscheint für unzählige Tausende“.
Soundso war mein Name, Weisheit war mir stets lieb,
sprich für ihn Gebete im Geiste, wenn Du diese Inschrift liest.
Hier ruht seligen Angedenkens Herr Soundso, der in Frieden am ......... starb. Wenn Ihr dies lest, oh Ihr alle, betet für ihn und sprecht: „Ewige Ruhe schenke ihm der Herr“. Amen.
Paris, BnF, Lat. 4629, fol. 56r (Ausschnitt)
Das Sterbedatum („XIV Kal. Junas“) zwischen dem Hinweis „qui obiit in pace“ und der Aufforderung zum Gebet („Quando legeritis, o vos omnes…“) wurde leer gelassen: Dort ist eine deutliche Lücke (Spatium) zu erkennen. Was hätte sich der Gelehrte Besseres wünschen können, als dass auch sein Epitaph zum Muster für schönes Schreiben wurde?
(Text: Philippe Depreux; Übersetzung: Christoph Walther)