Ein Liebesbrief: Formulae Salicae Merkelianae 47
14. Februar 2025
Ein schönes Beispiel für einen frühmittelalterlichen Liebesbrief findet sich in der Formelsammlung Vatikan, BAV, reg. lat. 612 (V6), fol. 293r-293v, ediert von Zeumer als Nr. 47 der Sammlung der Formulae Salicae Merkelianae[1]. In dieser Briefformel, die zweifellos eine salutatio darstellt, richtet ein Verliebter seine Worte an seine Geliebte. Der Brief trägt den Titel Indiculum ad sponsam (Brief an die Braut): indiculum ist ein Begriff der Rechts- und Verwaltungspraxis[2] und sponsa erscheint ausschließlich im Titel, während im Text des Briefes die Begriffe amica für die junge Frau und amico für den junge Mann verwendet werden. In derselben Formelsammlung gibt es mehrere Beispiele für Briefe und Dokumente zu verschiedenen Anlässen, wie Mitgiften oder Ehescheidungen[3]. Doch Sprache und Formulierung der FSM 47 unterscheiden sich völlig von den übrigen juristischen Dokumenten. Anders als in den umliegenden Vertragsformeln über Mitgiften, Vermögensübertragungen zwischen Eheleuten usw. behandelt der Text jedoch kein rechtliches Anliegen, sondern die Liebe[4] zwischen zwei jungen Menschen. Die Briefformel befindet sich in einem Abschnitt der Handschrift, der weitere Briefe enthält, von denen einige den Titel indiculum tragen und an verschiedene Personen gerichtet sind (Abt, Archidiakon, König usw.[5]). Dies erklärt den Titel auch wenn der Inhalt des Textes –insbesondere die erklärte Sehnsucht nach einem Rat oder eine Maßnahme (consilium), um die Begierde (desiderium) zu stillen– darauf hindeutet, dass die hier beschriebene Liebe kaum eine eheliche ist.
Die gesamte Briefformel spiegelt eine Liebesbeziehung durch Parallelismen und eine binäre Struktur wider, was der Komposition ein ausgewogenes Gleichgewicht verleiht. Der erste, recht umfangreiche Absatz beginnt mit einem Wortspiel: amabiliter amando et insaciabiliter desiderando, („an die liebend zu liebende und die unersättlich zu begehrende“), dessen Gegenstück in der doppelten Paarung von Adjektiven erscheint, die der Geliebten gewidmet sind: dulcissima atque in omnibus amatissima („allersüßeste und in allem geliebteste“) und desiderabilem melliflua („sehr ersehnte honigsüße“). Der Schreiber vereint die beiden Liebenden als Zeichen eines ersehnten Wiedersehens (amica mea illa ego) und stellt sie unter den Schutz Gottes (in Dei nomine). Im zweiten Abschnitt wird das Versenden des Briefes thematisiert, wobei eine überwältigende Intensität der Zuneigung usque ad gaudium („bis zur der Freude“) zum Ausdruck kommt, die durch das Personalpronomen ego verstärkt und in der Fülle einer geteilten Liebe (quantum cordis nostrae continet plenitudo, „wie die Fülle unseres Herzens umfasst“) gebündelt wird. Durch ein schönes metaphorisches Bild reisen die Grüße (salutes) des Autors zwischen den Wolken, während er die Himmelskörper bittet, durch einen Wunschsubjunktiv[6] sie zu seiner Geliebten zu führen (sol et lunae eius deducant ad te, „Sonne und Mond geleiten sie zu dir“). Anschließend folgen monorhythmische Verse, die das Bild des Verliebten zeichnen, der an seine Geliebte denkt, bevor er einschläft und von ihr träumt[7]. Im nächsten Absatz werden der Geliebten Glück gewünscht und sie wird angefleht, ihren Geliebten nicht zu vergessen. Es folgt ein Satz in Prosa, dessen ersten Hälfte durch eine chiastische Anordnung den Wunsch nach Tag und Nacht anhaltendem Glück ausspricht (bene habeas in die et noctes suauis transeas, „am Tag sollst du es gut haben und die Nächte sollst du angenehm durchqueren). Die zweite Hälfte, ebenfalls chiastisch, stellt eine Parallele zur Eingangsformulierung amica mea her und fordert die Geliebte auf, den Geliebten nicht zu vergessen, während die Pronomen die sprachliche Verbindung zwischen beiden Liebenden verstärken (ego tibi…). Darauf folgt eine zweite Gruppe monorhythmischer Verse in paralleler Struktur (tu pensas unum consilium et ego penso altero, „du erwägst ein consilium und ich erwäge ein anderes“), in denen die Erfüllung des gemeinsamen Verlangens gewünscht wird. Schließlich verwandelt sich der Brief in ein Gebet: in einer Art Ringkomposition wird erneut auf den göttlichen Schutz verwiesen, der bereits am Anfang erwähnt wurde, und auf das Reich und die Vorsehung Gottes angespielt: qui regnat in celo … tradat te in manibus meis, „der im Himmel herrscht … übergebe dich in meine Hände“.
Im Postskriptum des Textes wird der Brief als eine magna salutatio präsentiert, was als Kommentar des Kompilators erscheinen mag: Die salutatio oder der einleitende Gruß ist der Abschnitt, in dem sich der Absender dem Empfänger vorstellt, oft in der dritten Person; sie war einer der am meisten beachteten Teile, da sie die hierarchische Beziehung zwischen Absender und Empfänger ausdrückte (meist in einer Formel wie „an X sendet Y Grüße“), die mit eloquenten Lobreden ergänzt werden konnte[8]. Die Einstufung des Textes als salutatio scheint zu suggerieren, dass dieser einleitende Teil des Briefes eine wesentliche Rolle spielt. Tatsächlich wird der Fokus auf die salutatio bei späteren Briefstellern zur Regel, weshalb dieser Brief sowohl als Zeugnis für die Kontinuität als auch für die Transformation der Briefkunst zwischen der Antike und den mittelalterlichen dictamen-Schulen[9] gilt. Die salutatio konnte für sich genommen als Miniaturbrief verstanden werden oder als Teil eines größeren Ganzen und zur Bezeichnung des gesamten Briefes dienen – insbesondere in einem Liebeskontext.
Eine der Besonderheiten dieses kleinen lateinischen Werkes ist, dass es sowohl aus Prosa als auch aus zwei rhythmischen Monoreimpassagen mit 7-8 Silben besteht, die in gewisser Weise den Stil der gesprochenen Sprache nachahmen[10]. Dass der Text teilweise in gereimter Prosa verfasst ist, könnte ihn tatsächlich zu einer poetischen Epistel[11] machen.
Anahí Álvarez Aguado
[1] K. Zeumer, MGH Formulae Merowingici et Karolini aevi, 1, 1886, S. 258.
[2] Schaller, 1988, S. 67-68: „Gleichsam wie ein erstes einsames Schneeglöckchen in noch winterlicher Landschaft findet sich inmitten der Monotonie zahlloser Urkunden- und Vertragsformeln aus merowingischer und karolingischer Zeit […] ein einzelnes Liebesbriefmuster, spätestens im 9. Jahrhundert verfasst, Indiculum ad sponsam überschrieben“.
[3] Zum Beispiel FSM 16, eine donatio zwischen einem Mann und einer Frau (coniux), im Titel als uiram (!) bezeichnet, oder FSM 17, ein libellum dotis mit dem Begriff sponsa; siehe auch FSM 18, ein libellum repudii … inter illo et coniugem suam illam.
[4] K. Zeumer hat diese Briefformeln als „ein zarter Liebesbrief“ bezeichnet (Zeumer, 1881, S. 90).
[5] Einige dieser Musterdokumente teilen lexikalische Elemente mit diesem Liebesbrief (FSM 49, 50, 52 und 59). In FSM 49 wird apices im Sinne von litteras verwendet; in FSM 50 erscheint der Ausdruck quantum archana cordis continet plenitudo; FSM 52 beginnt mit derselben Konstruktion und spielt auch mit Adverb und Gerundium: venerabiliter venerando et desiderabiliter desiderando; FSM 59 (indiculum ad amicum) enthält die Grußformel: salutamus uobis usque ad maximum gaudium.
[6] Es könnte auch sein, dass eine gleiche Endung wie im vorherigen Verb (ambulant) vom Autor erwünscht war. Dennoch, im Gegensatz zu anderen Begriffen, werden die Verben in dieser Formel mit äußerster Sorgfalt ausgesucht.
[7] Laut Dronke, 2007, S. 177-178, handelt es sich um eine Kunstprosa, die zwei monorimierte und rhytmische Vierzeiler enthält.
[8] Lefèvre – Uulders 2016, S. 16.
[9] Bourgain 2005, S. 161.
[10] Bourgain 2000, S. 224.
[11] Uulders 2010, S. 36.
Further reading:
Bourgain, Pascale (Hrsg.): Poésie lyrique latine du Moyen Âge, Paris 2000, S. 224.
Bourgain, Pascale: Le latin médiéval, Turnhout 2005, S. 161-163.
Dronke, Peter: Forms and imaginings: From antiquity to the fifteenth century, Roma 2007, S. 177-178.
Garrison, Mary: “Send more socks. On mentality and the preservation context of medieval letters”, in: New approaches to Medieval Communication, Turnhout (1999), S. 69-99.
Lefèvre, Sylvie und Uulders, Hedzer (Hrsg.): Lettres d’amour du Moyen Age: les saluts et complaintes, Paris 2016, S. 16.
Schaller, Dieter: „Erotische und sexuelle Thematik in Musterbriefsammlungen des 11. Und 12. Jahrhunderts“, in: Fälschungen im Mittelalter 5 (1988), SS. 63-77, hier S. 66-67.
Uulders, Hedzer: Autour des saluts et complaints d’amour du manuscrit BnF f. fr. 837. Recherches sur deux genres mineurs de la poésie française du XIIIe siècle, unveröffentlichte Dissertation, Università di Padova (2010), S. 35-37.
Zeumer, Karl: Über die älteren fränkischen Formelsammlungen, in: NA 6 (1881), S. 9–115, hier S. 90.
Zeumer, Karl (Hrsg.): MGH Formulae Merowingici et Karolini aevi, Hannover (1882), S. 239–263.