Bemerkungen zum Gerichtsverfahren in der Formelsammlung von Angers
28. Januar 2019
Bemerkungen zum Gerichtsverfahren in der Formelsammlung von Angers (pdf)
Alexandre Jeannin
Die Formelsammlung von Angers ist für Rechtshistoriker von besonderem Interesse, um Licht auf den Stand der Entwicklung des Prozessrechts in einer merowingischen Stadt am Ende des 6. Jahrhunderts zu werfen1. Sie stellt das älteste Zeugnis für die lokale Rechtspraxis aus Gallien dar und ist damit eine einzigartige Quelle für die Entwicklung des Gerichtsprozesses zwischen dem besser dokumentierten 4. und 5. Jahrhundert und dem fränkischen Gerichtsverfahren2. Zugleich sollten wir jedoch auch die warnenden Hinweise Ian Woods nicht aus dem Auge verlieren und dürfen die Formeln von Angers nicht voreilig mit der Lex Romana vergleichen, da wir nur sehr wenig über den Einfluss des römischen Vulgarrechts und des lokalen Gewohnheitsrechts auf die Funktionsweise der niederen Gerichtsbarkeit wissen3.
Bereits Olivier Guillot hat die große Kohärenz der Urteile betreffenden Formeln der Sammlung von Angers deutlich gemacht und dafür auf die sie strukturierenden Worte verwiesen, die ein offenbar unabwandelbares Verfahren vermuten lassen: Veniens, interpellatio, denegatio, interrogatio, visum4. Dieser Umstand ist umso bemerkenswerter, als dieses Vokabular noch in späteren Formelsammlungen streng eingehalten wird5. Überraschenderweise lässt sich, gerade auch für Angers, feststellen, dass der Ablauf des Verfahrens unabhängig ist von der Natur des Tribunals, von seinem Vorsitzenden (Richter aus dem kirchlichen Bereich, Graf, prepositus oder auch agens) und jenen, aus denen es sich zusammensetzt (reliquis viris oder auditores). Diese Einheitlichkeit könnte auf die extreme Vereinfachung des angevinischen Verfahrens, oder allgemeiner, des Formulars, zurückzuführen sein und eine Antwort auf die Notwendigkeiten des gesunden Menschenverstandes darstellen. Ebenso könnte sie, ohne dass dies unvereinbar mit der ersten Hypothese wäre, der Beweis sein, dass das Personal, welches die Protokollführung und die schriftliche Abfassung der Urteile sicherstellte, über die verschiedenen lokalen Instanzen hinweg identisch war. Die Gegenwart von Gerichtsbeisitzern wurde oftmals als Angleichung an germanische Traditionen interpretiert6. Die Formeln von Angers scheinen jedoch sehr viel mehr in der Kontinuität der Organisation der lokalen Institutionen zu stehen, denen das Prinzip der Kollegialität nicht unbekannt war (es genügt an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass in der Antike außer dem Magistrat und dem exceptor drei Kurialen für die Insinuierung apud acta notwendig waren7).
Nicht alle Teile des Verfahrens werden durch die Formeln überliefert. So fehlen insbesondere die dem Prozess vorausgehenden Regelungen hinsichtlich jener Fragen, bei denen die Identität der Parteien und ihrer Vertreter geklärt wurde. Nichtsdestotrotz finden wir in der Sammlung eine bedeutende Reihe von Mandaten ad litem, die von der curia municipalia im Rahmen der außerstreitigen oder freiwilligen Verfahrens der insinuatio bestätigt und bescheinigt wurden8. Diese Bestätigungen des Rechtes zur Stellvertretung waren mit großer Wahrscheinlichkeit für den Prozess notwendig und mussten noch vor dessen Beginn eingeholt werden. Die Gerichtsnotizen von Angers selbst beginnen einheitlich mit der Ankunft des Klägers (veniens) vor der zuständigen Instanz; der Schreiber markiert auf diese Weise den Beginn des Prozesses. Der Kläger ruft damit den Richter an, nennt den Beklagten und bringt vor, weshalb er diesen anklagt (interpellabat). Der Beklagte bestreitet darauf in einer formellen Art und Weise die Vorwürfe dieser interpellatio. Dieser Parallelismus von interpellatio und denegatio ist sicherlich entfernt mit der narratio und contradictio des postklassisch-römischen Verfahrens verwandt, durch die mittels der litis contestatio das kontradiktorische Verfahren eröffnet wurde9. Die Natur der litis constetatio, die ursprünglich jenen Akt bezeichnet, der die erste Phase des Prozesses abschließt, wird bereits für das 4. und 5. Jahrhundert diskutiert10. Das Verfahren in Angers ist von dieser offensichtlich weit entfernt. Die interpellatio/denegatio scheint indessen die zweite Phase, oder das medium litis, zu eröffnen, in welcher der Richter die Beweise untersucht. In dieser Materie stellen die Formeln von Angers damit keinen Bruch mit dem postklassisch-römischen Verfahren dar, sondern stehen mit ihm in Kontinuität. So nimmt der Eid bereits seit dem 4. und 5. Jahrhundert eine bedeutende Rolle ein11. Die angevinische Praxis scheint das Phänomen verstärkt und sicherlich zugleich seine Modalitäten angepasst zu haben12.
Der angevinische Schreiber beendet seine Notizen systematisch mit der Ausformulierung des Urteils (visum), deren Vielfältigkeit und Vollstreckbarkeit bereits umfassend untersucht wurden13. Die Formeln von Angers weisen hier eine echte Neuerung auf, die einen Bruch mit der postklassisch-römischen Praxis darstellt. Die verschiedenen Gerichte haben in der Tat die Möglichkeit, ein vorläufiges Urteil zu sprechen, indem sie für eine der Parteien einen unter bestimmten Bedingungen zu leistenden Reinigungseid anordnen. Das Neue besteht hierbei darin, dass dieses vorbereitende Urteil ebenfalls eine Möglichkeit vorsieht, den Rechtsstreit in seinem Kern zu lösen, je nachdem ob der Reinigungseid geleistet wird oder nicht14.
Diese Bemerkungen über das Gerichtsverfahren in der Formelsammlung von Angers sollen lediglich daran erinnern, dass sie ein Ausdruck des Fortlebens des alten postklassischen Verfahrens sind, wenn auch weitgehend gewandelt sowohl durch den Einfluss der lokalen Praxis und Gewohnheit, als auch durch die Notwendigkeit sich den Umbrüchen der lokalen Institutionen im 6. Jahrhundert anzupassen. Dabei ist es erstaunlich, welch eine zentrale Rolle die Schriftlichkeit, die jeden Schritt des ordentlichen Ablaufs des Verfahrens dokumentiert und die Öffentlichkeit des Urteils sicherstellt, in den rechtlichen Verfahren zur Lösung von Streitfällen im merowingerzeitlichen Angers noch immer einnimmt.
1 W. Bergmann, „Die Formulae Andecavenses, eine Formelsammlung auf der Grenze zwischen Antike und Mittelalter“, in Archiv für Diplomatik 24 (1978); O. Guillot, „La justice dans le royaume franc à l’époque mérovingienne“, in La Giustizia nell’alto Medioevo (secoli V-VIII), Settimane di studio del C.I.S.A.M. XLII, Bd. 2, Spoleto, 1995, S. 653-735; Neudruck in O. Guillot, Arcana imperii Recueil d’articles, Cahiers de l’I.A.J., Limoges, 2003, S. 33-94; S. Tarozzi, „Alcune osservazioni sul diritto processuale nelle Formulae Andecavenses“, in Bassanelli (Hg.), Ravenna Capitale. Giudizi, Giudici e norme processuali in Occidente nei secoli IV-VIII, Bd. II, Studi sulle Fonti, 2015, S. 179-196. Die Texte sind ediert bei K. Zeumer (Hg.), Formulae Merowingici et Karolini aevi, Hannover 1882 (= MGH Formulae [1]), S. 1-31.
2 Vgl. für die postklassische Periode insb. M. Kaser, K. Hackl, Das römische Zivilprozessrecht², München, 1996; L. De Giovanni, Istituzioni, scienza giuridica, codici nel mondo tardoantico. Alle radici di una nuova storia, Rom, 2007; S. Puliatti, „Accertamento della veritas rei e principio dispositivo nel processo postclassico-giustinianeo“, in U. Agnati, S. Puliatti (Hg.), Principi generali e techniche operative del processo civile romano nei secoli IV-VI d. C., Parma, S. 103-128; J. Gaudemet, E. Chevreau, Les institutions de l’Antiquité, Paris, 2014, S. 397-496.
3 I. Wood, „Disputes in late fifth- and sixth-century Gaul: some problems“, in W. Davies, P. Fouracre (Hg.), The Settlement of Disputes in Early Medieval Europe, Cambridge, 1986, S. 7-23 (insb. S. 8).
4 Form. And. 10 (a), 11 (a), 24, 28, 29, 30, 50. Vgl. O. Guillot, „La justice dans le royaume franc“, S. 62-71.
5 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit können wir etwa Form. Big. 7, 8; Form. Merk. 27; Form. Sen. Rec. 1, 2, 3, 4, 5; oder auch Form. Lind. 21 nennen.
6 F. Lot, Histoire du Moyen Âge. Les destinées de l´Empire en Occident de 395 à 888, Bd. 1, 1928, S.309.
7 Brev., C. Th. 12, 1, 8: Municipalia gesta non aliter fieri volumus quam trium curialum praesentia, excepto magistratu et exceptore publico,semperque hic numerus in eadem actorum testificatione servetur.
8 Form. And. 52 (Zeumer, S.22f.) ist ein schönes Beispiel für ein allgemeines Mandat zur Stellvertretung vor Gericht, in welchem die Bestätigung der Vertretungsmacht und die Bescheinigung durch die öffentlichen Instanzen in fine ausformuliert sind: Iuratum, mandatum tamquam gestibus oblecatus. Et ut cercias credatur, mano mea supter firmaui, et magnorum eorum supterius decreui adfirmare. Datum mandatum Andecauis ciuetate. Kein einziges Mandat (Form. And. 1 (b), 48, 51, 52), ob für einen speziellen Fall oder generell, ist von der Eintragung in die gesta municipalia befreit. Die angevinische Praxis scheint auf der Kontrolle der „Repräsentation“ durch eine dritte Partei zu bestehen.
9 L. De Giovanni, Istituzioni, scienza giuridica, S. 300; vgl. auch M. Kaser, K. Hackl, Das römische Zivilprocesrecht², S. 479.
10 A. Laquerrière-Lacroix in S. Kerneis, Une Histoire juridique de l’Occident, Le droit et la coutume (IIIe-IXe siècle), Paris, 2018, S. 65.
11 L. De Giovanni, Istituzioni, scienza giuridica, S. 300.
12 O. Guillot, „La justice dans le royaume franc“, S. 66ff.
13 W. Bergmann, „Die Formulae Andecavenses“.
14 Ein Beispiel für ein derartiges Urteil findet sich in Form. And. 50 (a) und (b) bezüglich der Anklage eines Verbrechens (Zeumer, S.22): das vorläufige Urteil (bevor definitiv Recht zu sprechen) (Angehängt an Form. And. 50 (a) findet sich eine den Eidesleistung festhaltende Notiz (Form. And. 50 (b)), welches damit das bereits in Form. And. 50 (a) vorgesehene, endgültige Urteil herbeiführt.