Platzhalter in frühmittelalterlichen Formelsammlungen
17. November 2022
Ein wichtiges Kennzeichen frühmittelalterlicher Formelsammlungen ist deren weitgehende Anonymisierung. In aller Regel werden Eigen- und Ortsnamen sowie Datums- und Mengenangaben durch Platzhalter ersetzt. Dies macht die Datierung solcher Sammlungen grundsätzlich schwierig. Insbesondere die ältere Forschung hat Formelsammlungen anhand solcher Anonymisierungen definiert, was insgesamt aber zu kurz greift (zum Thema vgl. A. Rio, Legal Practice and the Written Word, S. 47f.).
Als Platzhalter für Namens- Datums und Ortsangaben dienen meist Formen des Demonstrativpronomens ille („jener“), manchmal genügt den Schreibern auch ein bloßes N. Für Mengenangaben wird für gewöhnlich tantus („so groß, so viel“) benutzt. Es gibt außerdem Grenzfälle, bei denen sich nicht immer eindeutig entscheiden lässt, ob es sich um einen Platzhalter handelt oder nicht.
Eine angemessene Übersetzung solcher Platzhalter ist eine Herausforderung, da in den Texten nicht immer deutlich wird, welche Person gerade handelt. Alice Rio hat sich in ihrer Übersetzung der Formelsammlung aus Angers und der des Marculf dazu entschieden, dieses Problem durch die Vergabe von Buchstaben (Person A, B, C etc.) zu lösen. So entstehen allerdings gerade bei komplexeren Vorgängen mit mehreren anonymisierten Akteuren diskutable Interpretationsansätze, z.B. für die Formel Angers 47 (vgl. A. Rio, The formularies of Angers and Marculf, S. 89f.). Im Projekt Formulae-Litterae-Chartae werden die Platzhalter dagegen textgetreu als solche belassen und in der Regel mit „Soundso“ (Formen von ille bzw. N.) oder „soundsoviel(e)“ (für Formen von tantus) übersetzt.
Beispiel 1: Beginn der Formel Marculf I,1 [ganze Formel in der Werkstatt anzeigen]
Domino sancto et in Christo venerabili fratri illo abbate vel cunctae congregatione monasterii illius in honore beatorum illorum abbate illo in pago illo constructo ille episcopus. | An den heiligen Herrn und ehrwürdigen Bruder in Christo Abt Soundso und die ganze Gemeinschaft des Klosters Soundso, das zu Ehren der Seligen Soundso und Soundso von Abt Soundso im Gau Soundso errichtet wurde, Bischof Soundso. |
Beispiel 2: Güterliste aus Marculf I,11 [ganze Formel in der Werkstatt anzeigen]
Veridus sive paraveridos tantos, pane nitido modia tanta [sequente] modia tanta, vino modia tanta, cervisa modia tanta, lardo libras tantas, carnelibras tantas, porcos tantos, porcellos tantos, vervices tantos, agnellus tantos, […] | Soundsoviele Dienstpferde jeder Art, soundsoviele Scheffel Weißbrot, soundsoviele Scheffel Graubrot, soundsoviele Scheffel Wein, soundsoviele Scheffel Bier, soundsoviel Pfund Pökelfleisch, soundsoviel Pfund [frisches] Fleisch, soundsoviele Schweine, soundsoviele Ferkel, soundsoviele Hammel, soundsoviele Lämmchen, […] |
Die Forschung hat sich bisher nicht tiefergehend mit diesen Platzhaltern in den frühmittelalterlichen Formelsammlungen beschäftigt, was sich auch auf die bisher dafür fehlenden Möglichkeiten für deren Untersuchung zurückführen lässt. Um solche Analysen möglich zu machen, sind in der Werkstatt des Projekts die Platzhalter in den Formeln nicht nur explizit hervorgehoben, sondern lassen sich auch über eine Lemmasuche mit dem Suchbegriff „platzhalter“ gezielt finden.
Alexander Müller