Der Notar von Angers und sein Wirkungskreis
23. April 2019
Der Notar von Angers und sein Wirkungskreis (pdf)
Horst Lößlein
Am Beginn der Formelsammlung von Angers findet sich ein überaus ungewöhnlicher Eintrag. Drei Formeln sind hier eingebettet in einen protokollartigen Text1, der beschreibt, wie Dokumente (ebendiese Formeln) vor der öffentlichen Versammlung von Angers präsentiert und in die gesta municipalia, die öffentlichen Bücher der Stadt, eingetragen werden. Zuständig für diese Eintragung ist ein als diaconus et amanuensis bezeichneter Schreiber. Dieser Schreiber ist es wohl auch, der in einigen weiteren Formeln zum Vorschein kommt, in denen sich Formulierungen in der ersten Person finden2 und den wir damit als Urheber der in der Sammlung überlieferten Urkunden ausmachen können3. Nur wenige Aussagen lassen sich über diesen Schreiber treffen. Als Diakon gehörte er dem geistlichen Stand an4. Die Bezeichnung als amanuensis führt kaum weiter: bei amanuensis handelt es sich um eine seit dem 2. Jahrhundert gebräuchliche generische Bezeichnung für „Schreiber“5. Tätig war er, wie wir der Eingangsformel entnehmen können, als Schreiber in öffentlichem Auftrag in Angers6. Wohl in dieser Funktion verfasste er auch eine Reihe von Gerichtsurkunden sowie mit den Verhandlungen (placita) in direktem Zusammenhang stehende Notizen über Eide und die (Nicht-)Erfüllung von Rechtspflichten7. Darüber hinaus finden sich in der Sammlung jedoch auch zahlreiche Urkunden, die auf private Aufträge zurückzuführen sind: Verträge über Transfers von Grundeigentum oder Unfreien (servi) und verschiedenste Übereinkünfte zwischen Privatpersonen, etwa nach der Eheschließung zweier Unfreier durch ihre Herren, der gegenseitigen Einsetzung als Erben durch ein kinderloses Ehepaar oder auch nach einer Scheidung.
Es sind vor allem letztere Urkunden, die am meisten über die Nutzung von Schriftlichkeit durch die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und damit über die Bedeutung von Schriftlichkeit in der Merowingerzeit aussagen8. Die Grundeigentum betreffenden Verträge etwa sind in ihrer Ausführung derart formelhaft und anonymisiert, dass sich über die an ihnen beteiligten Parteien lediglich feststellen lässt, dass sie offenkundig über Grundeigentum verfügten. Eine Ausnahme stellt allerdings die Schenkung eines als vir illustris und matrona illuster bezeichneten Ehepaars an einen Nonnenkonvent innerhalb der Stadtmauern von Angers dar9. Bereits die Titulierung als illuster verweist auf die Angehörigkeit zur Elite von Angers10. Darüber hinaus erfahren wir, dass zu ihrer Verwandtschaft auch ein Abt gehörte, die Familie also offenbar über ein gewisses Sozialprestige verfügte. Über die wirtschaftlichen Verhältnisse gibt schließlich der Umstand Aufschluss, dass es sich bei diesem Ehepaar um die Stifter des Konventes handelte, es also wohl über erhebliche Mittel verfügte. Diese Schenkung ist nicht der einzige Hinweis auf der Oberschicht angehörige, gut vernetzte Personen in den Formeln von Angers. Auch zwei Mandate scheinen von wohlhabenderen Personen mit Geschäftsbeziehungen über die Grenzen des Stadtgebietes hinaus ausgestellt worden zu sein11. Jemandem ein Mandat für die Erledigung von Geschäften zu erteilen war vor allem dann sinnvoll, wenn diese Person über eine hohe soziale Stellung verfügte, die es ihr ermöglichte, ihren Einfluss geltend zu machen und die Dinge im Sinne des Mandatsausstellers zu lenken. Dies scheint auch auf die beiden Mandatsträger zuzutreffen, die jeweils als dominus magnificus bezeichnet werden – ähnlich dem vir illuster ein Zeichen für die Angehörigkeit zur Elite12. Ihre Bereitschaft, ein Mandat zu übernehmen, spricht wiederum für die guten Beziehungen der Aussteller zu ihnen und damit gleichermaßen für deren Zugehörigkeit zur Oberschicht.
Doch nicht nur die Oberschicht, auch die anderen gesellschaftlichen Schichten finden wir in den Formeln von Angers. Freie verkaufen sich in die Unfreiheit, Unfreie werden verkauft oder freigelassen und Herren einigen sich über Ehen zwischen ihren Unfreien und anderen Personen. Besonders interessant ist jedoch eine Sicherheit (securitas), ausgestellt von einer Frau13. In der Sammlung finden sich einige solcher Sicherheiten. Ausgestellt am Ende eines Streitfalles, ob vor Gericht verhandelt oder außergerichtlich gelöst, sichert die klagende Partei der beklagten zu, diese deswegen fortan nicht mehr belangen zu wollen. In diesem Fall hatte die Frau einige Männer beschuldigt, gewisse Habe aus ihrem Besitz gestohlen zu haben. Mit ihrem Vorwurf hatte sie sich an einen homo sancti illius (Mann des heiligen Soundso) gewendet. Als sie auf dessen Vermittlung hin ihre Habe zurückerhalten hatte, stellte sie die besagte Sicherheit aus, die der homo sancti illius wiederum bekräftigte. Dieser Mann ist es auch, mittels dessen sich Rückschlüsse auf die soziale Stellung der beteiligten Personen ziehen lassen. Das Fehlen einer Amtsbezeichnung (wie etwa presbyter oder diaconus) deutet darauf hin, dass es sich bei ihm nicht um einen Kleriker handelte, sondern wohl vielmehr um einen Dienstmann der Kirche, etwa um einen unfreien Aufseher14. Daraus können wir schließen, dass es sich bei den anderen beteiligten Personen um unfreie Bedienstete handelte, die diesem unterstanden.
Der Notar von Angers bediente alle gesellschaftlichen Schichten, wenn auch die oberen Schichten in der Sammlung dominieren. Dies entspricht dem Charakter der Sammlung, die vor allem Eigentumsfragen betreffende Dokumente beinhaltet. Doch zeigt sie uns auch, dass die Bedeutung von Schriftlichkeit keine Frage sozialen Standes war, sondern sich auch jene ihrer Bedienten, die kaum etwas besaßen.
1 Gemeinsam mit diesem Protokoll firmieren diese Formeln in der Edition Zeumer (MGH Formulae Merowingici et Karolini aevi I) als Formel 1.
2 So etwa Formel 10: Sic uisum fuit ipsius abbati uel quibus meus aderant, ut ipsi homo aput homines XII, mano sua XIII in basileca domne illius in noctis tantis coniurare deberet… Ähnlich auch Formeln 16, 17 und 30.
3 Ähnlich auch W. Bergmann, Die Formulae Andecavenses. Eine Formelsammlung auf der Grenze zwischen Antike und Mittelalter, in: Archiv für Diplomatik 24 (1978), S. 1-53, hier S. 39-52, der in diesem amanuensis allerdings auch den Urheber der Formelsammlung sieht.
4 In der Spätantike lag die Schreibertätigkeit in den Händen von Laien. In einem bis ins 10. Jahrhundert dauernden Prozess wurden diese zunehmend von Klerikern abgelöst. Vgl. dazu W. Bergmann, Fortleben des antiken Notariats im Frühmittelalter, in: P.-J. Schuler (Hg.), Tradition und Gegenwart. Festschrift zum 175-jähringen Bestehen eines badischen Notarstandes, Karlsruhe 1981, S. 23-35, hier S. 27-29; R. Härtel, Notarielle und kirchliche Urkunden im frühen und hohen Mittelalter, Wien 2011, S. 69
5 Zum amanuensis vgl. H. C. Teitler, Notarii and exceptores: an inquiry into role and significance of shorthand writers in the imperial and ecclesiastical bureaucracy of the Roman Empire, from the early principate to c. 450 AD, Amsterdam 1985.
6 Zum Fortleben antiker Notariatspraktiken vgl. P. Classen, Fortleben und Wandel spätrömischen Urkundenwesens im frühen Mittelalter, in: Ders. (Hg.): Recht und Schrift im Mittelalter, Siegmaringen 1977, S. 13-54 und W. Bergmann, Fortleben des antiken Notariats (wie Anm. 4), S. 23-35.
7 Vgl. zu diesen Urkunden ins. O. Guillot, La justice dans le royaume franc à l’époque mérovingienne, in: La giustizia nell’alto medioevo, secoli V-VIII (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull'alto medioevo 42), Spoleto 1995, S. 653-736, insb. S. 690-702.
8 Zur Bedeutung von Schriftlichkeit in der Merowingerzeit vgl. etwa I. Wood, Administration, law and culture in Merovingian Gaul, in: R. McKitterick (Hg.), The Uses of Literacy in Early Medieval Europe, Cambridge 1990, S. 63-81; Y. Hen, Culture and Religion in Merovingian Gaul, A.D. 481-751, Leiden, New York, Köln, 1995, S. 21-42; P. S. Barnwell, Action, Speech and Writing in Early Frankish Legal Proceedings, in: M. Mostert and P. S. Barnwell (Hgg.), Medieval Legal Process. Phyiscal, Spoken and Written Performance in the Middle Ages (Utrecht Studies in Medieval Literacy 22), Turnhout 2011, S. 11-26; U. Eigler, Gallien als Literaturlandschaft. Zur Dezentralisierung und Differenzierung lateinischer Literatur im 5. und 6. Jahrhundert, in: S. Diefenbach und. G. M. Müller (Hgg.), Gallien in Spätantike und Frühmittelalter. Kulturgeschichte einer Region, Berlin und Boston 2013, S. 399-419.
9 Formel 46.
10 Zum Epitheton illuster vgl. H. Reimitz, „Viri inlustres“ und „omnes Franci“. Zur Gestaltung der feinen Unterschiede in historiographischen und diplomatischen Quellen der Karolingerzeit, in: A. Schwarcz und K. Kaska (Hgg.), Urkunden – Schriften – Lebensordnungen. Neue Beiträge zur Mediävistik. Vorträge der Jahrestagung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung aus Anlass des 100. Geburtstags von Heinrich Fichtenau (1912-2000). Wien, 13.-15. Dezember 2012, Wien u. a. 2015, S. 123-150.
11 Formeln 48 und 52.
12 Zum Epitheton magnificus vgl. P. Koch, Die byzantinischen Beamtentitel von 400 bis 700, Jena 1903, S. 45–58.
13 Formel 26.
14 In den anderen Sicherheiten finden sich hingegen sogenannte boni homines (Männer guten Leumunds) in der Rolle der Vermittler. Diese zeichneten sich nicht zuletzt durch ihre soziale Stellung aus. Vgl. dazu K. Nehlsen-von Stryk, Die boni homines des frühen Mittelalters unter besonderer Berücksichtigung der fränksichen Quellen, Berlin 1981, S. 247-254; H. Maurer, „Grenznachbarn“ und boni homines. Zur Bildung kommunikativer Gruppen im hohen Mittelalter, in: J. Petersohn (Hg.): Mediaevalia Augiensia. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, Stuttgart 2001, S. 101-123, hier S. 118-120 und J. Jégou, Scabini, témoins, boni homines… acteurs de la communauté judiciaire à l’époque carolingienne, in: J. Péricard (Hg.): La part de l’ombre: artisans du pouvoir et arbitres des rapports sociaux (VIIIe-XVe siècles), Limoges 2014, S. 41-56, hier S. 43
Horst Lößlein April 2019